medicoJOURNAL, Ausgabe Feiern

Art Safiental


Kunst in der Natur feiern



Diese Schweizer Täler überraschen immer wieder. So auch das Safiental. Angekommen an der Zufahrt blickt man hinein und denkt sich, was soll da noch kommen. Ein paar Kurven noch, dann wird der Weg dem Druck der Felsen nachgeben, wird der Steigungen und Windungen müde werden und erschöpft enden. Aber – man kann sich der Dinge nie ganz sicher sein.

Kurve um Kurve bohrt sich der Weg immer tiefer ins Tal; eine Welt öffnend, die hier unmöglich Platz zu haben scheint. Verrückt, diese Schweiz. Es hat Vieles Platz, in dieser «Fuscht im Sack».

Eben noch badet man im Bodensee und schnuppert an der Nordsee, schon schwimmt man im Walensee und glaubt kaum, dass hinter den Churfirsten Menschen wohnen.

Ich mache kurz Rast, bevor ich das Safiental einatme. So will es die Legende. Wirklich entscheiden tue ich das nicht, es hat hier einfach einen praktischen Parkplatz. Aber Zeit für den ersten Kaffee des Tages ist es eindeutig. Ich sitze auf der Terrasse des Rössli in Versam. Ein prächtiger Spätsommertag und noch dazu ein Freitag – kein Mensch hier, die Welt gehört mir.

Ich telefoniere mit Johannes M. Hedinger, dem Kurator der Art Safiental 2022. Wieviel Zeit ich habe, fragt er, bevor er mir ein Programm für die Besichtigung zusammenstellt. Viel Zeit habe ich, sage ich, und oute mich sogleich als Tourist, Anfänger, Turnschuhwanderer, Flachländer, Handyhirsch.

Schon nach den ersten zwei Stationen werde ich wissen, ich bin verloren. Nie werde ich Johannes’ Programm schaffen, nie mich von der Natur da hinten, ganz hinten im Tal lösen könne. Viel zu urig ist ihre Umarmung, zu tief kann man sich in ihre Stille fallen lassen, zu gut ist die hausgemachte Gerstensuppe im Berggasthaus Turrahus mit Blick aufs Alperschällihorn.

Alle zwei Jahre von Juli bis Oktober wird dieses endlose Tal zum Schauplatz für Kunst und das Safiental Heimat der Art Safiental. Die Landschaft feiert Kunst in der Natur und zeigt, was Land- und Environmental Art und ihre Schöpferinnen und Schöpfer bewegt. Das Thema 2022 lautet «Learning from Earth» und zeigt 15 Kunstprojekte, die sich mit der planetaren Krise auseinandersetzen.

«Entweder du beginnst in Versam mit der Besichtigung und arbeitest dich nach hinten ins Tal oder du beginnst zuhinterst», resümiert Johannes sein Briefing. Ich fange hinten an, will mich reinstürzen, nicht vortasten. Bis ich dort bin, in Wanna, vergeht eine Stunde. Teufelskerle bauen die Strasse breiter, schaffen Platz, wo keiner ist. Die Autofahrer warten. Komisch, dass man kurz ungeduldig wird. Man ist ja da, wo man sein will, im Tal. Einfach nicht genau dort, aber hier. The best place to be is somewhere else.

Luftlinie rund 20 Kilometer bis Italien. Wem ich auch begegne, alle sind easy und freundlich.

Mein erster Halt ist in Thalkirch beim Kunstwerk «Wood Wide Web» von Saskia Edens, respektive der Aufzeichnung ihrer Performance. Im Vorraum der Thalkircher Kirche, die 1441 erstmals urkundlich erwähnt wird, sieht man sich einem TV auf Augenhöhe gegenüber, montiert an einem groben Holzkonstrukt.

Saskia Edens, «Wood Wide Web», Art Safiental 2022

Der Flatscreen berichtet von der Performance der Westschweizer Künstlerin. Sie hat sich im Wald in der Erde vergraben und mit dem «Wood Wide Web» verbunden.

WÄHREND SIE SICH LANGSAM AUS DEM ERDREICH BEFREIT, INTERAGIERT SIE MIT WURZELN, DIE SIE AUCHALS KLEID TRÄGT, UND DREI BRONZE-HÄNDEN – VON SICH, IHRER TOCHTER UND IHRER MUTTER – DIE FÜR DIE WEITERGABE ZWISCHEN DEN GENERATIONEN STEHEN.

Pressetext Art Safiental

Ich weiss nicht warum, aber das Vorzimmer der Kirche passt gut für das Video der Performance. Erde zu Erde, vielleicht darum. Nackt geboren werden, vielleicht auch darum. Aus dem Schoss der Mutter Natur. Und nackt zu ihr zurückkehren, wie Franz von Assisi.

Der Vorraum macht auch was aus. In der Kirche ist man noch nicht, aber draussen auch nicht mehr. Man ist im Übergang wie die Künstlerin zwischen Erde und Luft, dem Körperlichen und Spirituellen, dem Sein und Werden, der Geborgenheit und dem ausgelieferten Sein.

Die Luft ist so schön kühl, frisch. Sie macht, dass die Haut lebt und die Sinne sich spannen, wie Muskeln, die gebraucht werden. Abspann, zurück ins Auto.

Die Parkplatztafel trägt den Zusatz «Für Jäger». Ich jage Erfahrungen. Auf dem Beifahrersitz Karten, Notizheftchen, Kugelschreiber, Fotoapparat, Smartphone. So viele Sachen, die wieder machen, dass man den Blick buckelt. Schau geradeaus, schau die Landschaft. Fokus, Mission – ich greife zur Karte der Art Safiental mit den während des Telefonats markierten Tipps von Johannes. Johannes wäre momentan wohl nicht so stolz auf mich, erste Undiszipliniertheiten schleichen sich ein.

Die Karte ist übrigens super. Übersichtlich, informativ, praktisch, lässig. Voll gut. Ich fahre weiter, bis ganz nach hinten. Als ich das letzte Mal hier war, vor Jahren, lag hier schon Schnee, als die Badehosen im Flachland noch vom letzten Badibesuch trockneten. Schliesslich sind wir hier auf 1’750 Meter über Meer. In Wanna verlasse ich das Auto wieder und folge dem Art Safiental-Wegweiser Richtung Fluss Rabiusa. Dorthin, wo er auf den Wannatobelbach trifft.

Wegweiser unter sich. Von wem lässt du dir den Weg weisen? Geerdeter gesprochen, einfach super Signaletik, das.

Nicht nur der Plan ist super, auch die Wegweiser sind genau da, wo man sie sichwünscht. Jetzt bin ich fast ganz hinten im Tal. Noch weiter und man würde sich an die Wand fahren und den Steinen ins Gesicht sehen müssen. Vorher aber noch Kunst.

Der Weg führt durch harmloses Gebüsch zu «Terrain Vague», der Textinstallation von Ben Vautier.



MIT EINEM REMAKE SEINER TEXTTAFEL «TERRAIN VAGUE» (1961/70) LENKT DER IN NIZZA LEBENDE KÜNSTLER DEN BLICK AUF SICH IM WANDEL BEFINDENDE ZWISCHENORTE. DER BEGRIFF, DER AUF DEN GLEICHNAMIGEN FILM VON MAR- CEL CARNÉ (1960) ZURÜCK GEHT UND DORT DIE URBANE BRACHE UMSCHRIEB, KANN ASSOZIIERT WERDEN MIT LEERE, ABWESENHEIT, ABER AUCH VERSPRECHEN, DEN RAUM DES MÖGLICHEN UND DIE ERWARTUNG. AN ZWEI ORTEN IM TAL TAUCHT DIE TAFEL AUF UND ZEIGT, DASS AUCH DIE RURALE LANDSCHAFT IN STÄNDIGEM UMBRUCH UND VOLLER PO- TENZIALE FÜR NEUES IST.
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Pressetext Art Safiental

Ich treffe im Flussbett auf zwei Touristen, die ich im Verlauf des Tages immer wieder treffen werde. Ich sage Touristen, als wäre ich keiner, haha. Beim dritten Mal ist das zufällige Treffen noch lustig, danach lästig. Sie bauen so Steinmännli und werden bei den Verrenkungen, die sie beim Fotografieren ihrer Bauten machen selber zu Skulpturen. Niemand will Wiederholungen, aber ich sag es trotzdem nochmals – mir gefällt auch dieser Ort und sehr gut obendrauf. Da wo es Steine runterschwemmt.

Der langsame, schwere, rollende, feste, granulare, graue Fluss. Wenig Wasser, sehr wenig. Gerade noch so schaffen es Rinnsale in die Rabiusa zu münden, die sich später, nach Versam, dem Vorderrhein anschliesst. Learning from the Earth. Ein gutes Klassenzimmer, das Safiental.

Von der Erde lernen hat mit sehen und dem Dialog mit einem selbst zu tun. Die Kunst unterstütz, tut, was sie muss – Fragen aufwerfen. Und hier ist noch mehr. Die Landschaft nimmt dem Menschen die Wände, gibt der Kunst die dritte Dimension. Keine Häppchen und lauten Gespräche. Ohne Sicherheit des immerselben Raumes. Seien wir ehrlich, wo will man in einer Galerie schon hinschauen, ausser aufs Bild. Da ist ja sonst nichts, ausser der weissen Wand.

Hier finden Veränderungen statt, die konzentrisch um die Kunst lauern und jeden Besuch einmalig machen. Was heisst hier nur Steine. Was heisst hier nichts, was Sackgasse. Wer sagt das. Von wem lässt du dir das sagen. Leere oder Möglichkeiten? Sag du.

Ich möchte gerne länger bleiben. Es geht noch weiter nach hinten, flüstert mir ein weiterer Wegweiser zu. Zum Glück.

Das Holzhaus steht geknickt da. Wie wenn man jemandem hinten in die durchgestreckte Kniekehle reingrätscht und der Gegrätschte dann zusammensackt, ohne ganz hinzufallen. Die Kniekehle des Holzhauses ist dort, wo der Unterbau aus Trockensteinmauer und der Oberbau aus mittlerweile schwarzem Holz sich die Hand geben.


«Via Capricorn» des Künstlerduos Simon / Odermatt

Nicht aufgeben, altes Haus, denke ich, als ich drinstehe, auf dem Stroh, neben den hängen Pfosten. Vor dem Haus steht ein Kaktus. Das Paar, das immer da ist, wo ich auch bin, fragt mich, ob ich dieses Kunstwerk gemacht hätte. 1A Conversation Starter. Leider nein. Der Kaktus steht stellvertretend für das Werk «Via Capricorn» des Künstlerduos Simon / Odermatt.

DAS WERK DES KÜNSTLERDUOS LIEGT AM ENDE DESTALS AUF DER «ALPERSCHÄLLI», DEM ÜBERGANG VOM SAFIENTAL ZUM SCHAMSERBERG AUF 2500 M Ü.M. JEDES JAHR SIND DIE HOLZPFÄHLE, DIE DEN WANDERWEG MARKIEREN, ABGEWETZT UND HABEN IHRE TYPISCHE ROT- WEISSEN FARBSTREIFEN VERLOREN. DAHINTER STECKT DIE ANSÄSSIGEN STEINBOCK-KOLONIE, DIE IHRE HÖRNER AN DEN POSTEN ABWETZEN. EINIGE PFÄHLE WURDEN NUN SO VERÄNDERT, DASS JEDER AUF ANDERE SPIELERISCHE WEISE DAS ERNEUTE ABWETZEN ERSCHWERT. DIE STATIONEN HEISSEN: IM SEE, KOLOSS, MINI, KAKTUS, LANG UND DÜNN UND PFAHLHOF. WEM DIE ANSPRUCHSVOLLE TOUR ZU STRENG IST, BESUCHT BEI WANNA DIE DOKUMENTATION SAMT ABGEWETZTER WANDERWEGMARKIERUNGEN.
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Pressetext Art Safiental

Ich möchte da hoch, eigentlich. Ganz hoch auf den Schamserberg. Und hoch hinaus zu Julius von Bismarcks «Bäume ohne Grenzen» auf den Tomülpass. Und in den 100 Meter langen Servicestollen zu «Lost Water and Found Stairs» von Badel / Sarbach. Es wird sich nicht ausgehen, sagt die Uhr. Mission failed? Wie viele Leben habe ich noch?

Auf dem Rückweg Halt im Hotel Alpenblick in Tenna. Das Alpenblick ist gerne für eine Überraschung gut, wobei «immer» leicht übertrieben ist, ich bin nun erst zum zweiten Mal hier. Das Haus vibriert, man bereitet es auf eine geschlossene Gesellschaft vor. Ja, etwas trinken geht schon noch, lächelt Sascha, den ich später kennen lernen sollte.

Terrasse, Blick ins Safiental bis ganz nach hinten, wo ich die Füsse so fest auf den Boden aufgesetzt hatte, wie lange nicht.

Skulpturen der Menschen im Dialog mit der Landschaft, Handlungen haben Wirkung, wo setze ich meinen Fuss hin, was ist mein Fussabdruck. Der Kopf meldet sich. Wann fährst du heim, fragt er, du weisst, der Abendverkehr. Schweig und strecke deine Windungen, Hirn.

Auf der Terrasse des Hotel Alpenblick mit Sascha Skraban, «det Tenna am Bergli». Sascha kam vor vier Jahren nach Tenna, als Küchenscheff des Alpenblick, seit eineinhalb Jahren ist er Betriebsleiter. Das Haus ist Heimat für «ILEA», dem Institute for Land and Environmental Art. Im Hotel befindet sich auch die Bibliothek des Instituts und die Zimmer werden Künstler als Residency zur Verfügung gestellt. Gefeiert wird auch hier gerne. Zum Beispiel letztes Jahr an einem dreitägigen Rave mit 2000 Watt.

«Tenna ist lebendig», begeistert sich Sascha, «die Einwohner machen viel selbst.» Das Hotel drohte einst, verkauft zu werden. Da hat man kurzerhand den Verein Tenna Plus gegründet und das Hotel übernommen, damit es im Dorf bleibt. Die Zusammenarbeit mit Kurator Johannes M. Hedinger wächst immer mehr zusammen. Learning for Earth touchiert auch die Küche über Workshops. «Künstler gehen nicht anders an ein Gericht wie ich», erinnert sich Sascha, «aber die Zubereitung muss man schulen.»

Sascha Skraban, Scheff vom Alpenblick

Die verwendeten Nahrungsmittel sind alle lokal. «Das Alpschwein ist von der Tenneralp und die Namen der Rinder kommuniziere ich den Gästen. Das wird ab und zu komisch aufgenommen, aber ich finde es wichtig, dies zu tun. Auf die Zukunft freue ich mich. Wir kultivieren drei Säulen – Hotel/Gastronomie, Kunst und dann bauen wir ein Kompetenzzentrum für Berg- und Alpwirtschaft auf und wollen uns international vernetzen. Im Dorf werden Gärten werden angelegt. Ein weiteres Projekt ist, finanzierbaren Wohnraum in Tenna zu bieten. Das Schöne hier ist, man reisst an und wird mitgerissen.

Man freut sich mit Sascha und für den Ort. Er muss jetzt gehen, die Vorbereitungen für eine geschlossene Ge- sellschaft warten.»Es geht was, hier im Tal. Mal ufe, mal abe, mal links, mal rächts. Aber vor allem vorwärts. Ichjedoch muss rückwärts, demTalausgang entgegen und übergebe Kurator Johannes M. Hedinger das letzte Wort.

Johannes, stell dich doch bitte vor.

Ich bin Johannes M. Hedinger, Kurator der Art Safiental Biennale, Leiter der Alps Art Academy und Direktor des ILEA Institute for Land and Environmental Art, in Tenna/Safiental.



Wie kam es dazu, dass du Kurator der Art Safiental 2022 wurdest?

Kurator der Art Safiental bin ich seit der ersten Durchführung im Pilotjahr 2016. Das erste Mal im Tal war ich vor fast 20 Jahren für einen Filmdreh der Kunstkollektivs Com&Com für die Biennale Singapore. Bereits damals gefiel es mir hier sehr gut, es vergingen dann aber nochmals zehn weitere Jahre, ehe ich wieder kam. Freunde von uns haben hier ein Ferienhaus und wir verbrachten einige Zeit in dieser Abgeschiedenheit, dann kam die Idee auf, mit Kunst auf diese einzigartige Landschaft zu reagieren. Und zwar nicht allein, sondern zusammen mit vielen kreativen Leute aus dem In- und Ausland, die wir hierhin einladen und in und mit der Natur Kunst machen. Diese Idee einer internationalen Sommer Art Academy stellten wir dann der Gemeinde vor und mit Hilfe von Freiwilligen und dem Tourismusverband haben wir 2016 eine erste Ausgabe gemacht. Noch vor der Biennale stand die Idee der Sommerakademie (die dieses Jahr wie auch die Biennale zum 4. Mal stattfindet) – die Gemeinde wünschte sich dann neben der eher geschlossenen Akademie etwas, bei dem auch die Einheimische und Gäste teilnehmen können, so haben wir dann von Beginn auch eine Outdoor-Ausstellung mitgeplant, die in der Aussenwirkung schnell ein Publikum fand und auch als Promotion für das Tal funktioniert. Dies auch dank einiger spektakulären Werken, die in den Medien auftauchten (z. B. das Null Stern Hotel, die schwimmende Insel, die blaue Frau etc). das Publikum ist über die Jahre ständig gestiegen, ca. 8‘000-10‘000 Gäste kommen so in einem Biennale-Sommer ins Tal. Neben der Biennale und der Academy ist seit zwei Jahren ein drittes Standbein hinzugekommen: die Forschung mit langjährigen Projekten wie die ökoakustische Waldforschung oder Oral History mit Talbewohnerinnen. Darüber bauen wir aktuell das Institut ILEA auf (Institute for Land and Environmental Art), das seit 2 Jahren auch permanente Räume im Alpenblick hat mit Bibliothek, Werkstatt und Residency. Längerfristig soll das ILEA zu einem Hochschulinstitut für Forschung und Bildung sowie zu einem innovativen «Kreativ-Hub» und «Reallabor» mit überregionaler und internationaler Vernetzung ausgebaut werden.

Was ist deine Inspiration, deine Motivation und was sind die Beweggründe für das Thema «Learning from the Earth»?

Nach dem die ersten 3 Ausgaben der Biennale eher formaler (2018:«horizontal-Vertikal») und medialer (2020: «Analog-Digi- tal») Natur waren, sind wir dieses Jahr deutlich inhaltlicher und im Kern unserer künftigen Mission angelangt: Kunst + Ökologie zusammen zu bringen. Und dazu gehört nicht nur die Klimakrise und das Anthropozän, sondern auch alternative, teils vergessene oder verlernte Möglichkeiten, wie wir mit der Erde in Dialog treten und von ihr lernen können. Die aktuell im Safiental gezeigten Werke und Projekte sind Kommentare und Vorschläge, die sich kritisch mit der Gegenwart und der planetaren Krise auseinandersetzen und Alternativen zu aktuellen Entwicklungen und Umwälzungen vorschlagen. Sie denken darüber nach, was unsere Beziehung zur Erde ist und was wir von ihr lernen können. Im Kern behandeln die Werke der aktuellen Ausstellung Themen wie Nachhaltigkeit, Biodiversität und die Natur im Allgemeinen, aber auch Aspekte wie die Mensch-Tier-Pflanzen-Hierarchie, Holismus und Kosmologie werden adressiert. Allen gemeinsam ist die Frage, wie wir eine ökologischere und gerechtere Zukunft gestalten können. Neben formalen und ortspezifischen Umsetzungen, enthalten die Werke oft auch prozessuale, partizipative und transdisziplinär-forschende Teile und zeigen die tieferen Beziehungen zu Systemen und Phänomenen in Bezug auf die sozialen und kulturellen Aspekte des Klimawandels auf. «Learning from the Earth» ist sowohl eine Ausstellung über den Wandel als auch ein Katalysator für den Wandel.

Wie hast du die Landschaft gelesen, sie in deine Arbeit integriert?

Mit «lesen» verstehe ich auch «lernen», von dieser Landschaft, dem Ort, seiner Geschichte, seinen Leuten und lokalen Kultur lerne ich seit Jahren immer wieder neu. Jeder Besuch und auch die wechselnden Jahreszeiten verhelfen zu neuen Einsichten. Und dann ist da eben noch die Kunst und deren Autorinnen, die ihrerseits neue Themen, Fragen, Herangehensweisen mit ins Spiel bringen. Sei es als ästhetisches Objekt, als Prozess, als Forschung und vieles mehr. Dieses gegenseitige Befragen und Lernen ist so manigfaltig, dass es nie enden wird. Auch mein Output ist sehr breit: Sei es die Kuration verschiedener Ausstellungen im Freien oder auch indoor, sei es als Vermittler, als Forscher, Autor oder eben auch selbst als Künstler. Mit dem Künstlerduo Com&Com habe ich die begehbare Bergkanzel geschaffen, die bei jeder Biennale an einem neuen Ort im Tal auftaucht und so einen neuen Einblick vermittelt und die Landschaft rahmt. Während die Holzbox 2016 ganz hinten im Tal, 2018 ganz vorne und 2020 in der Mitte einen neuen Einblick ins Tal vermittelte, verlässt sie in diesem Jahr das geographische Flusstal der Rabiusa und bietet erstmalig eine Sicht in die Rheinschlucht. Die Bergkanzel lädt die Besuchenden ein zu grossen Reden oder ruhigem Verweilen. Wer seine Gedanken teilen möchte, benutzt hierzu das zugehörige Gästebuch.

Können diese künstlerischen Interventionenauch in einem anderen Tal so stattfinden, oder was macht das Safiental einzigartig?

Die Projekte im Safiental sind sehr «site-bezogen». Hier wird eben nicht in einem Atelier für den White Cube oder Markt produziert. Die meisten der hier gezeigten Werke oder angesiedelten Projekte wurden speziell für dieses Ort und Kontext entwickelt. Ein Grossteil liesse sich adaptieren, aber es würde meist zu einer unterschiedlichen Aussage und einem anderen Erlebnis führen. Vieles lässt sich auch in anderen Alpentälern machen – aber man soll unterscheiden, wo es sich um Standort- und Eventmarketing handelt und wo wirklich eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Ort, der Natur und dem lokalen Kontext angestrebt wird.

Was hat dir an deine Arbeit Freude bereitet?

Wie gesagt, meine Arbeit hier im Tal und Projekt ist sehr mannigfaltig. Das ist nicht nur die nach aussen wohl am meisten sichtbare Rolle als Leiter und Kurator der Biennale Safiental. Genauso wichtig sind die Leitung und ständige Weiterentwicklung des Curriculums der Alps Art Academy, wie auch die sehr transdisziplinär angelgegen Forschungsprojekte. Alle fussen auf Netzwerke mit lokalen Stakeholdern aus Landwirtschaft, Tourismus, Forst, Gewerbe und bauen auf Partnerschaften mit nationalen wie internationalen Institutionen aus Bildung und Forschung mit dem Ziel Wissen zu generieren und zu teilen. Freude bereitet mir, wenn ich Menschen und Themen in Dialog bringen kann, die vorher kaum miteinander eine Schnittstelle und Gesprächsgrundlage fanden. Wenn ich sehe, wie Menschen und Institutionen beginnen voneinander zu lernen, wenn ein Funke überspringt und etwas Neues entsteht. Das geschieht bei fast jedem Kunstwerk, Bildungs- oder Forschungsprojekt, in das Kreative von aussen und Lokale involviert sind. Besonders schön funktioniert das auch bei unserer Residency: diesen Sommer wohnten während drei Monaten zwei Inder im Dorf Tenna und entwickelt hier das Grasmuseum, was auch Teil der laufenden Biennale ist. Zunächst gingen sie mit den Bauern heuen und lernen so die Kultur und Bedeutung des Grases kennen. Später bauten sie – auch mit Hilfe von lokalen Mitarbeitern, aber basierend auf ihrer Wahrnehmung und kulturellen Background das Museum in einem 150-jährigen, ehemaligen Heustall auf, der temporär so einen neuen Nutzen bekam und über eine Aussensicht die eigene Geschichte neu aufarbeitete. Freunde habe ich aber auch an den spannenden Symposien, Texten und Publikationen, die wir verlegen. Immer auch mit dem Ziel, Wissen und Erkenntnisse zu generieren, bündeln und weiterzugeben.

Die Art Safiental 2022 fand vom 2. Juli bis 23. Oktober statt.  

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