medicoJOURNAL, Ausgabe Perspektive

Come As You Are


«The lines in the song are really contradictory. One after another they are kind of a rebuttal to each line. It's kind of confusing, I guess. It's just about people, and what they are expected to act like.»

Kurt Cobain



Ich möchte von Mo, 16, wissen, wie ihre Perspektive auf die Welt, die Gesellschaft und ihre Zukunft ist. Ich bin neugierig, wie man im Teenager-Alter die Welt sieht und wie man über Selbstreflexion zum Schluss kommt, sich als genderfluid zu definieren und wie dies die Perspektive möglicherweise ändert. Meine Gedanken zu Mos Aussagen und der Genderdiskussion im Allgemeinen hatte ich im Anschluss an das Interview auf einer Seite zusammengefasst. Ein widersprüchlicher Akt, wie ich kurz darauf fand. Also habe ich diesen abschliessenden Text wieder gelöscht. Einfach weil ich finde, der mittelalte weisse Mann kann mal die Klappe halten und muss nicht das letzte Wort haben. Das hat jetzt Mo.

Hallo Mo. Du hast neulich mit deiner Familie die Ausstellung «Geschlecht» im Stapferhaus in Lenzburg besucht. Fandest du die gut?

Ja, ich fand sie interessant, aber ich hätte es besser gefunden, es wäre weniger um Mann und Frau, sondern mehr um Gender gegangen.

Was ich verstanden habe, ist, dass man das Entweder/Oder aufbrechen will. Man will sich als Mensch wahrgenommen fühlen und sich nicht definieren lassen. Darf ich fragen, wie du deine Rolle siehst, noch nicht siehst oder welche Fragen du dir stellst?

Ich würde mich als genderfluid bezeichnen oder als non-binary. Es ist ein grosses Thema für mich, aber irgendwann fand ich, das stimmt für mich im Moment. Aber wenn jemand wissen will, wie ich mein Geschlecht sehe, muss ich das schon erklären, weil das für jeden anders ist. Für mich stimmt dieser Begriff jetzt. Kann auch sein, dass ich in fünf Jahren merke, dass ich ein Trans-Mann bin. Aber das kümmert mich im Moment nicht. Diese Fragen beschäftigen mich, aber darüber muss ich auch nicht zu fest nachdenken.

Konntest du dich zu diesem Thema mit jemandem austauschen?

Hätte ich wohl schon können, aber ich habe es vor allem mit mir selbst ausgemacht. Foren und Internetplattformen waren zum Teil Anlaufstellen für mich. Grundsätzlich war es aber so, dass ich mich zu diesen Themen informierte und mir dann durch eigene Gedankenarbeit meine Schlüsse zog. Mich interessierte vor allem, wie andere diese Situation erleben. Nicht, dass ich mit ihnen geredet hätte, aber ich habe zum Beispiel über TikTok-Videos die Gedanken und Erlebnisse anderer erfahren. Das war sehr interessant für mich. Diese Menschen teilten nicht nur ihre Erfahrungen, sondern verwiesen an hilfreiche Foren, Plattformen oder andere Informationen.

Wie nimmst du die etablierten Gesellschaftsstrukturen wahr? Fühlst du Widerstände? Glaubst du, von der Gesellschaft vorbehaltlos angenommen zu werden oder nimmst du urteilende Blicke wahr, wenn du zu zum Beispiel ein Café betrittst?

Ich rede nicht so viel darüber, so fällt es nicht so auf, denke ich und ich nehme kaum Reaktionen wahr, die ich in den Zusammenhang zu meiner Genderfluidität stelle. Würde ich meine Definition öfter thematisieren oder öfter andere Pronomen einfordern, kann ich mir schon vorstellen, mit mehr Widerstand rechnen zu müssen. In meiner Familie zum Beispiel merke ich schon, dass das ein Thema ist, das sie überhaupt nicht kennen und vielleicht auch ein bisschen ratlos macht. Aber sie geben sich sehr Mühe, das Thema zu verstehen und das alleine ist für mich schon sehr wichtig. Aber zum Beispiel einer Kollegin von mir, der ist es unangenehm. Sie sagt zwar, dass es für sie ok sei, wenn ich ihr von meiner Definition erzähle, aber es ist dennoch komisch für sie. Aber da ist sie nicht die einzige. Ich merke, dass es viele gibt, die das nicht ganz verstehen. Das hat auch nichts mit dem Alter zu tun, es gibt aus meiner Erfahrung in jeder Altersklasse Leute, die das verstehen oder nicht.

Verstehst du, dass man es nicht verstehen kann?

Kommt drauf an, wie stark der Widerstand wird. Wenn man es nicht kennt, aber sich Mühe gibt, es zu verstehen, verstehe ich das. Aber wenn man dagegen ist oder beleidigend wird, habe ich Mühe damit. Man braucht mich deswegen nicht Scheisse zu finden.

Kannst du dich an einen Schlüsselmoment erinnern, der dich dazu bewogen hat, dich mit dem Thema zu befassen?

Es wurde laufend immer mehr, aber TikTok-Videos waren schon entscheidend. Rückblickend liessen sie mich erkennen, weshalb ich mich in gewissen Momenten meiner Gefühle nicht klar war, respektive, andere Gefühle bemerkte, als man hätte haben sollen. Durch andere genderfluide Menschen, die sich mitteilten, wurde mir klar, dass es das überhaupt gibt.

Waren diese Videos, respektive die Botschaft der Menschen, also auch befreiend für dich?

Ja, sicher. Das war sehr schön zu hören und zu sehen. Was ein Problem war, machte plötzlich Sinn, das Problem löste sich auf.

Wie hast du diese Erkenntnis nach Aussen kommuniziert?

Meiner besten Kollegin habe ich es direkt gesagt. Sie hat aber nicht gross reagiert. In der Familie reden wir immer mal wieder darüber, eher schrittweise. Ich weiss schon, dass sie nichts dagegen haben, kenne aber auch Beispiele von Familien, wo die Eltern zwar sagen, sie haben nichts dagegen, sobald es aber das eigene Kind betrifft, wird es komisch. Ich wollte zum Beispiel schon immer kurze Haare und als ich mich neu erkannte, machte ich es dann auch.

Wenn du Widerstand merkst, was macht das mit dir?

Es macht mich schon leicht wütend. Ich finde, ich öffne mich und ich will nicht ausgeschlossen werden. Wenn ich zum Beispiel lieber hätte, gewisse Worte nicht mehr zu hören, weil ich das unangenehm finde, werde ich schon wütend, wenn ich das noch höre.

Zum Beispiel?

Naja, zum Beispiel der Ausdruck «Mädchenabend» ist total unangenehm für mich. Und sie vergessen es dann und das nervt mich. Ihnen ist es egal und mir wäre es wichtig.

Gibt es noch weitere Begriffe?

Das kommt drauf an. Es wechselt auch, weil ich genderfluid bin. «Meitli», «Schwöschter», so Sachen halt.

Also du wachst auf und dein Gefühl ändert sich?

Ja genau, wie ein Pendel, das um eine Mitte schwingt. Das fiel mir auf, als ich mir die Frage stellte, was ich bin, nichtbinär oder ein Trans-Mann. Da merkte ich, an gewissen Tagen beschreibe ich mich als Mädchen und an anderen Tagen bin ich doch wieder anders, es ändert oft.

Verfolgst du das Thema, die Diskussion des Themas in der Gesellschaft?

Ja, es ist schön zu sehen, dass das Thema in der Öffentlichkeit breiter diskutiert wird. Dennoch braucht es Zeit, dass es überall verstanden wird.

Dein Vater hat mir erzählt, dass es ihm geblieben ist, als du mal gesagt hast, dass du dich zu 60 % männlich fühlst.

Ja schon, aber ich kann auch nicht immer ganz genau definieren, warum es so ist, warum ich so fühle. Einer CIS-Person würde man solche Fragen auch nicht stellen, warum die Person sich als Mann oder Frau fühlt.

Wie siehst du denn unter den gegebenen Gedanken und Umständen deine Perspektive in der Gesellschaft, wenn du in die Zukunft schaust?

Darüber habe ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht.

Glaubst du denn, die Gesellschaft würde allgemein offener, wenn Diversitäten mehr angenommen würden?

Ja schon. Aber es provoziert auch krasse Gegenbewegungen. In den USA zum Beispiel, so habe ich gelesen, sollen Hormonbehandlungen als Misshandlungen eingestuft werden. Aber grundsätzlich sehe ich positiv in die Zukunft.

Du fühlst dich frei?

Ja, voll. Vor allem auch, seit ich das reflektiert habe. Rückblickend macht vieles Sinn und es fühlt sich an, wie angekommen zu sein.

Noch zu deiner Beziehung mit deinen Eltern, weil es für sie ja neu ist. Hast du dich in die Perspektive der Eltern gesetzt und fragst dich, wie sie es auffassen?

Ja klar, ich verstehe, dass sie sich Gedanken machen und dass man nicht immer weiss, wie damit umzugehen ist.

Wie stehst du zum Gendern und der Verwendung von Pronomen?

Ich finde es ist wichtig. Viele Menschen fühlen sich sonst nicht angenommen oder angesprochen. So schwierig ist es ja nicht, das anzupassen. Es ist doch einfach ein Wort. Klar, in der deutschen Sprache gibt’s keine neutralen Pronomen wie im Englischen, aber so ist es halt.

Wie stehst du zum Thema Erziehung? Hier findet ja schon früh eine starke Prägung statt.

Ich finde, die Erziehung sollte neutraler gestaltet werden. Klar, das biologische Geschlecht besteht. Aber Menschen unterschiedlich zu sozialisieren, macht für mich keinen Sinn. Ich glaube, würde man ein Bub und ein Mädchen gleich erziehen, wäre es nicht immer so, dass der Bub die Autos und das Mädchen das Püppchen cool finden würde. So würde es auch vom Umfeld weniger stereotypisiert und später besser angenommen werden. Also einfach nicht ausschliessen, mehr inkludierend, möglich machend. Dann ist es auch nicht so ein grosser Unterschied, wenn man sich später von der Gesellschaft wünscht, anders wahrgenommen zu werden. Man sollte die Entscheidung einfach selbst treffen können.

Ist die Diskussion nicht auch sehr verkopft? Oder nehme ich das so wahr, weil die Diskussion jetzt aufbricht?

Hm, schon auch vor allem jetzt, denke ich. Weil eigentlich kommt es ja nicht so drauf an. Wenn man eine Person kennen lernt, kann einem diese Person ja konkret sagen, wie sie sich fühlt. Meiner Meinung nach muss man den Unterschied zwischen Genderfluid und Genderflux nicht so klar festmachen. Viele interessiert das ja selbst nicht, sie wollen einfach als Mensch wahrgenommen werden.

Und wenn du jemanden kennen lernst, wie wünscht du, angesprochen zu werden?

Ich glaube, was wichtig wäre ist zu fragen oder es nicht komisch zu finden, wenn ich kommuniziere, wie ich angesprochen werden möchte. Wenn man in der Schule zum Beispiel angehalten wird, Namen und Pronomen aufzuschreiben, kann das Stress auslösen. Zu Beginn des Schuljahres zum Beispiel könnte man, so wie man sich und die Hobbies vorstellt einfach sagen, ich bin Peter und meine Pronomen sind sie, xier, es oder was es halt dann ist.

Das erwartest du in Zukunft?

Ja, schon.

Das andere beliebte Beispiel ist ja mit den Toiletten, Mann, Frau, erwartest du dort auch eine neue Lösung?

Es wäre sicher nicht schlecht, wenn es mehr geschlechterneutrale WCs hat. Aber ich respektiere es auch, wenn zum Beispiel meine Mutter überhaupt nicht in ein geschlechterneutrales WC will. Das gilt es natürlich auch zu respektieren. Aber ich sehe schon, dass man hier sehr viel ändern müsste.

Bist du in einer Beziehung?

Nein, momentan nicht.

Wenn du dich verliebst, wo fällt deine Liebe hin?

Das ist nicht so klar. Wenn, dann fühle ich mich einfach zu einem Menschen hingezogen.

Geschlecht oder Gender spielen keine Rolle?

Nein.

Also auch hier, inkludieren, aufeinander zugehen.

Ja.


Mo wurde 2006 geboren und ist somit zum Zeitpunkt des Interviews 16 Jahre. Mo lässt sich zur Fachperson Pflege ausbilden. In der Freizeit liest Mo sehr viel oder musiziert.


Bilder: Marco Iezzi, Stephan Huwyler