Reportage medicoJOURNAL – Ausgabe Abenteuer

Das Abenteuer
in der Hand


Reportage



Wo das Abenteuer wohnt, wissen wir erst, wenn wir es gefunden haben. Was ein Abenteuer ist, erfahren wir auf dem Weg. Um diesen Weg zu gehen, braucht es nicht viel. Man muss einfach alles hinter sich lassen und sich bewusst sein, dass jeden Tag alles vorbei sein kann und man sich wie ein streunender Hund ein neues Leben suchen muss. In diesem Bewusstsein lebt Marcel Rees, der Motorrad fahrende Handchirurg.


Kreissägen, Messer und Werkzeuge – wir sind nicht im OP-Saal, sondern in einer Garage in der Region Greifensee. Hier ist das Herz zu Hause von Marcel Rees, dem Abenteurer. Marcel Rees, der Alltagsmensch, arbeitet selbstständig in einer Zürcher Praxis und heilt Menschenhände. Operationen inklusive. Hier, in der Garage, schraubt er an seinen Motorrädern, mit denen er ins Abenteuer fährt, und somit seine Hände und seine Existenz aufs Spiel setzt. Ich sehe mich um und warte auf den rauchenden Pneumologen.

Herr Rees, was soll denn das, frage ich ihn innerlich, während die Feierabendsonne sich auch an diesem Abend immer weiter senkt und das ganze Abenteuerthema noch kitschiger macht. Abenteuer ist ja ein grosses Wort. Ein kleines Wort wäre auch komisch für etwas, das mindestens so gross wie die Welt sein soll, die man erobern will. Welches Abenteuer man auch wählt, sie alle verbindet eines: Man weiss nie, wie sie enden. Manche enden am Ende der Welt, andere vor dem Scheidungsrichter. Aber das macht das Abenteuer ja aus. Dieses «Trotzdem». Diese kleine Prise «Fuck it» im Rucksack.

Nachdem ich Herrn Rees innerlich gefragt habe, was denn das solle, frage ich ihn auch artikuliert und akustisch verständlich: «Herr Rees, was soll denn das?» Herr Rees schmunzelt. Er durchschaut den provokanten Grundton der Frage und lässt sich genüsslich Zeit für die Antwort. Mit der für Ärzte typischen Fähigkeit, auch Schlimmstes so beruhigend zu kommunizieren, dass man sich so wohlfühlt, als habe man eine halbe Flasche vom besten Rotwein intus, erzählt mir Herr Rees von der messerscharfen Lebenslinie, die ihn zu seinem Beruf, aufs Motorrad und an die Werkbank geführt hat.


Abenteuer Arbeit

Schon als Kind hat er sich immer kaputte Dinge besorgt, die er auseinandernehmen und flicken kann. Die Mechanik hinter dem Design, das Wie, nicht das Was, will Marcel Rees entdecken. Für ihn beginnt das Abenteuer hinter dem Vorhang. Woher diese Faszination kommt, weiss er selbst nicht so genau. Vielleicht über die Arbeit seines Grossvaters, der als Heizungsmonteur kaputten Heizkesseln wieder Dampf machte. Eines wusste Marcel Rees aber sicher. Er will handwerken und mit seinen Händen etwas wieder ganz oder besser machen. Die Ausbildung zum technischen Konstrukteur fasste er nach der Schule ins Auge, liess aber davon ab. «Der Austausch mit Menschen hätte mir gefehlt. Die Persönlichkeiten, wie ich sie heute täglich in der Praxis erlebe, bereichern meinen Alltag enorm. Und sie fordern mich heraus. Das gefällt mir sehr. Weil ich für ein Problem nicht immer dieselbe Lösung anwenden kann. Kein Bruch gleicht

dem anderen. Es gilt, die Lebensumstände des Patienten zu berücksichtigen. Steht zum Beispiel ein junger Patient vor einer wichtigen Prüfung, versuchen wir, sie ihm zu ermöglichen und nehmen die langfristige nachhaltige Heilung später in Angriff.»

Dieses analytische Denken sollte ich auch mal versuchen. Scheint total zu entspannen, wenn man dem Doc so zuhört. Der Rees wirkt jedenfalls total entspannt. Und zufrieden obendrauf. Er hat wirklich sein Ding gefunden – die Mechanik, im Menschen oder in der Maschine.

Abenteuer Bruch

Schlauer Fuchs, denke ich. Flickt gerne, also wird er Handchirurg. So muss er sich die kaputten Sachen nicht mehr holen, um sie zu flicken, sondern die kaputten Hände kommen zu ihm. Mit diesem Gedanken konfrontiert, lächelt Herr Rees höflich; wissend, dass diese Zusammenfassung zu einfach ist. Denn mit dem Bruch kommt auch der Patient und mit jedem Patienten dessen persönliche Geschichte, die beim ersten Treffen mit dem Doc auf einem Tiefpunkt angekommen ist. Oft sind nicht nur die Knochen gebrochen, sondern auch der Mensch. Er wird aus seinem Alltag geworfen und auf einen neuen Weg geschickt, auf dem ihn physische, mentale und emotionale Herausforderungen erwarten. Wo der Weg hinführt, ist ungewiss. Eigentlich alles Zutaten für ein Abenteuer. Aber ein Abenteuer, das er nicht gewollt hat.


Den Patienten in dieses neue Abenteuer hinein zu begleiten ist die Aufgabe von Herrn Rees. Es gilt, dem Patienten einen therapeutischen Weg zu weisen und ihm zu zeigen, dass dieser Weg keine Sackgasse ist.

Und tatsächlich kommen die Patienten auf diesem neuen Weg oft da an, wo sie sich ohne den Unfall nie hingetraut hätten. Durch die Pause aus dem üblichen Rhythmus geworfen, beginnen sich ihr Horizont und das Zeitfenster zu öffnen. Das Netz der Verpflichtungen lockert sich und schafft paradoxerweise eine neue Bewegungsfreiheit. So finden viele Patienten ein neues Ziel in ihrem Leben, das sie ohne den Bruch nie für sich entdeckt hätten.

Abenteuer Freizeit

Im Berufsalltag ist Herr Rees Reiseführer ins Abenteuer der Patienten. Er selbst darf sich auf keine Abenteuer einlassen. Fallanalyse und Operation folgen strikten Regeln. Das Unerwartete ist der Feind. In der Freizeit wechselt Herr Rees vom Reiseleiter zum Reisenden und begibt sich selbst ins Abenteuer. Auf Motorradtouren fährt er ins Ungewisse, lässt sich planlos treiben, und weiss mittags oft nicht, wo er abends sein wird. Bei der Frage, warum er als Handchirurg ausgerechnet Motorrad fahren muss, bleibt er allerdings ganz analytisch. «Motorrad fahren ist ein Risiko, aber ich suche nicht die Gefahr. Mir gefällt das abgenabelt sein. Neue Wege suchen, öffnet die Sinne. Das macht eine Tagesreise ins Bündnerland viel intensiver als einen Touristenflug nach Thailand, wo du planmässig durchgeschleust wirst und dir alle Entscheidungen abgenommen werden.»



Das Abenteuer definiert sich nicht über die Distanz auf der Karte, sondern über die Entfernung vom Alltag, von seinen gewohnten Mustern, dem sozialen Umfeld und Sicherheiten. Diese Entfernung erreicht man auch in Nepal nicht, wenn man sich nicht auf etwas einlässt, das unbequem werden könnte. Der technische Fortschritt rückt Distanzen zusammen und die digitale Abdeckung der Welt nimmt uns die Entdeckungen vorweg. Abenteuer werden zu Pseudoabenteuern, die wir auch noch beliebig wiederholen können.

Die Distanz zum Alltag findet Marcel Rees nicht nur auf dem Motorrad. Auch in seiner Garage beim Greifensee entfernt er sich weit von zu Hause, von seinem Alltag. Hier sägt und hämmert er an Fahrzeugen, Ideen und bereitet seine nächsten Reisen vor, die ihn aus seinem analytischen, logischen Alltag katapultieren.Verbunden werden beide Welten immer durch die Faszination für Mechanik und Problemlösung. Eine Faszination, die Marcel Rees auf einen Weg geschickt hat, auf dem er schon viele Träume verwirklichen und Abenteuer erleben konnte – und immer noch kann.

Das Risiko, das Motorradfahren oder die handwerkliche Arbeit beinhalten, nimmt er gerne in Kauf. Das Risiko, ohne diese Abenteuer zu leben, ist viel grösser. Auf die Frage, von welchen Abenteuern er noch träumt, folgt ein Schweigen. Aber es ist nicht das peinlich berührte Schweigen, das dich mit dir selbst und den aufgeschobenen Träumen, den nicht gegangenen Wegen konfrontiert. Marcel Rees schweigt und lächelt, weil er merkt, dass alles stimmt, so wie es ist.

Somit ist Marcel Rees vielleicht ein Abenteurer im ursprünglichen Sinne. Denn das Wort in seinem lateinischen Ursprung lautet ja «advenire», also «Ankommen».








Mark