medicoJOURNAL, Ausgabe Rot

Die Rotbuche stirbt


Vom Kommen und Gehen der Dinge



Im Dunkel erst, da harrt er still,
der Buchensamen, feucht und will
aus sich heraus, dem Lichte zu,
warum, das weiss er nicht und auch nicht du.


Überraschung am Kraftort «Creux du Van»

In alledem, was so vor sich geht auf dieser Erde, geschehen Dinge, die uns einen. Wir sind da und wissen nicht warum, wir gehen und wissen nicht, wann. Wir erleben Grundgefühle wie Liebe, Schmerz, Hoffnung und Trauer. Sie treffen uns wie ein Blitz, ein Biss, ein Schnitt, ein Würgen.


Kälte, Keiler, Wanderschuh
nichts erschüttert ihre Ruh’.
Die Buche lebt wie’s ihr gefällt,
ist Millionen Jahre Teil dieser Welt.


Eine Buche? Nein, ein Buchenbündel.



Rational wissen wir Bescheid – alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Und trotzdem. Trotz sorgfältiger, voraus greifender und analytischer Gedankenarbeit zu den Möglichkeiten eintreffender Gefühle im Moment des Ereignisses schiesst uns beim Sturz das Adrenalin ins Herz. Uns wird klar, dass es unklar bleibt, ob wir über das, was wir zwischen Anfang und Ende – oder den Anfängen und den Enden – tun, selbst entscheiden. Die Rotbuche, der häufigste Baum in Mitteleuropa, erlebt jetzt so einen Moment. Nach Millionen Jahren auf dieser Erde, unter uns, über uns, neben uns und mit uns, beginnt die Rotbuche zu sterben. Einfach der Lauf der Dinge?


Jetzt jedoch, so scheint, ist Schluss,
zu heiss ist’s auf dieser Erde,
so stirbt ein weiteres Erbe,
liebe Buche, wir danken dir – Todeskuss.


Ja, Spieglein, Spieglein an der Wand, es ist der Klimawandel. Die allergrösste Teil der Wissenschaft sagt, der sei diesmal Menschen gemacht. Seit der Industrialisierung muten wir der Erde immer mehr und schlussendlich zu viel zu. Der «Earth Overshoot Day», also der Tag, an dem wir eine Erde verbraucht haben, fällt 2022 auf den 28. Juli. Die Schweiz zum Beispiel braucht 4.4 Schweizen[1], um den eigenen, ökologischen Bedarf der Bevölkerung zu decken. Unser Handeln lässt die Buche verschwinden. Mühsam, diese Fakten. So gnadenlos und fordernd. Verzicht wäre eine Lösung und die Entscheidung, etwas zugunsten von etwas anderem loszulassen. Selbst etwas zu beenden und die Konsequenzen zu tragen. Aber der erste Reflex ist «aber». In Gedanken listet man Dinge auf, die man nicht mehr hätte, nicht mehr tun könnte oder nicht mehr so oft. Die Aussicht auf Entzug macht keinen Spass. Lenken wir uns genau deshalb soviel ab, weil wir schon wissen, was wir damit anrichten? Dinge gehen, wie man selbst. Man wird nicht gefragt, ebenso wenig wie zur Geburt. Aber wenn man gegangen wird, wie ist das? Aufgrund des Verhaltens anderer leidet, ausstirbt? Und nicht aus Not. Man wird nicht gefällt, weil die Familie sonst friert, ein Bett gebaut wird und als Ausgleich ein Setzling gezogen und für kommende Generationen gepflegt wird. Man verdurstet, weil der Nachbar dreimal am Tag badet. Und der Nachbar weiss, dass sein Nachbar seiner Bäder wegen verdurstet. Er stellt die Musik lauter, während er im Bademantel über das Buchenparkett läuft, der seinem Besuch immer so gut gefällt. Er wirkt so echt, so naturverbunden, ein Stück Ursprünglichkeit inmitten urbaner Geschäftigkeit. Es ist ja nicht so, dass die Buche nicht versuchen würde, bei uns zu bleiben.


Kampf gegen Trockenheit


«Dass Bäume auf Trockenheit reagieren, ist nicht aussergewöhnlich. Normalerweise aber tun sie dies, indem sie mit einem vorzeitigen Blattfall den Wasserbedarf reduzieren. Im Folgejahr treiben diese Bäume dann wieder normal aus. Derzeit aber ist zu beobachten, dass viele Bäume direkt absterben. Erkennbar ist dies am noch hängenden dürren Laub, an grossen dürren Ästen und an abplatzenden Rindenteilen», heisst es in der Medienmitteilung vom Juli 2018[2] vom Amt für Wald beider Basel. Eine Region, in der die Buchen besonders unter der Trockenheit litten. Finnenbahnen und Rastplätze wurden gesperrt, weil ausgetrocknete Äste abbrechen können. Bemerkenswert ist auch, dass zwei alte Schweizer Buchenwälder in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurden. Wie sehr sich die Bäume schützen lassen, wenn sie aufgrund der klimatischen Veränderungen schlicht lebensunfähig werden, bleibt abzuwarten.


Kampf gegen Stress


«Auf die seit vier Jahrzehnten spürbar zunehmende Klimaerwärmung, die mit häufigeren Trockenperioden einhergeht, reagiert die Buche mit einer Reduktion der Blattdichte im Kronenbereich, um die Gefahr eines zu hohen Wasserverlustes durch Verdunstung zu reduzieren.», so heisst es im Steckbrief des Vereins «Baum des Jahres»[3]. Die Buche zeigt sich also resilient. Dennoch. Sie ist, wie übrigens der gesamte Schweizer Wald, im Dauerstress. Nicht nur die Hitze und die Wassermengen setzen den Sauerstoffspendern zu, auch der Boden wird immer saurer. Das führt dazu, dass Buchen, Eichen und Fichten weniger stark wachsen und anfälliger für Schädlinge sind. Die Rotbuche ist sehr anpassungsfähig. Trotzdem scheint ihre Zeit abzulaufen. Gemäss Potenzialprognose der eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) wird sich die Buche «bei wärmerem und trockenerem Klima vor allem in die Gebirgslagen des Juras, der Voralpen und Alpen sowie der Südschweiz zurückziehen».


Didier Descouens / Wikipedia – fossiles Laubblatt einer Buche, ca. 3 Mio Jahre alt


Verantwortung


Was sagen wir dem Baum, unserem Freund, der uns in der Sommerhitze am Grillplatz stoisch Schatten gibt, unsere Luft reinigt und uns Sauerstoff spendet? Leider der Lauf der Dinge? Next? Und wenn ja, wie viele Arten Bäume haben wir auf der Ersatzbank? Nichts werden wir sagen. Die Veränderung ist im Alltag zu wenig penetrant, ein Baum schreit nicht und geht nicht auf die Strasse. Wenn unser Standpunkt ist, dass es der Lauf der Dinge ist, dann müssen wir diesen Massstab auch für uns anwenden, wenn die Welt, heisser, teurer, dichter, radikaler, unerbittlicher wird. Auch dann wird es einige treffen, nicht Bäume, einige von uns. Und andere nicht. Sagst du dann, es sei der Lauf der Dinge? Nun, Veränderungen brauchen Zeit und beginnen mit dem ersten Schritt – die Rotbuche Baum des Jahres 2022. Der Preis fürs Lebenswerk?