Reportage medicoJOURNAL – Ausgabe Gefängnis

Drinnen, aber draussen




Zu Besuch bei Häftling M.




In der Wohnung über mir höre ich Stimmen, die sich gegenseitig kitzeln, bis sie lachen müssen. Sie lachen, weil sie für ihr Glück keine Worte mehr finden.

Ich verstehe die Sprache meiner Nachbarn nicht, aber ich verstehe, dass sie sich in diesem Moment frei fühlen. Sie haben ein Leuchten entfacht, das alle Gedanken an gestern und morgen versengt und ruhig und zufrieden macht. Ihr Leben hat genau die Temperatur erreicht, bei der man die Luft auf dem eigenen Körper nicht mehr spürt. Alles stimmt, ohne dass sich etwas erkennbar geändert hätte. Du hast es geschafft, in die Blase des Glücks einzudringen, ohne sie zum Platzen zu bringen.

Dieses Glück ist so zart, dass es sich verflüchtigt, sobald man es festhalten will. Wahrscheinlich geht dieses Glücksmoment genau darum – weil er dann nicht mehr frei wäre. Frei selbst zu entscheiden, wo es ihm gefällt. Bei den lachenden Nachbarn, dem verliebten Paar, den Eltern mit ihrem Neugeborenen oder dem spielenden Hund. Niemand wird gerne gegen seinen Willen festgehalten, und doch wundert man sich, warum das Glück nicht bleibt, wenn man ihm Ketten anlegt.


Ich frage mich, ob Herr M. diese Momente noch kennt. Herr M. ist Insasse des Gefängnisses Affoltern am Albis. Herrn M. wurden, wie dem Glück, Ketten angelegt. Er hat Mist gebaut, wurde erwischt und der Staat hat Recht gesprochen. Jetzt sitzt er im Gefängnis und ich möchte von ihm wissen, wie das ist, da drinnen und draussen von der Gesellschaft. Wie das ist, festgehalten zu werden in einer Wohnung, zu der man keinen Schlüssel hat.


Was mich beim Gefängnisbesuch erwartet, weiss ich nicht genau. Ich kenne Gefängnisse aus Filmen, dem einen oder anderen Foto aus dem Blick, wo sich Kommentatoren über den Fernseher aufregen und überhaupt den hohen Standard. Fast schon wie in einem Hotel sei es da, warm und mit gratis Essen.

Doch schon der Einlassprozess macht mir klar, dass dies eine andere Welt ist. Ich läute und nachdem ich erklärte habe, warum ich hier bin, stehe ich stehe in einem Käfig, beobachtet von Kameras. Ich versuche die Türe des Käfigs zu öffnen, aber die Türe ist geschlossen. Also warte ich weiter und will schon das erste Mal ausbrechen. Ich bin ausgeliefert und das gefällt mir schon nach fünf Minuten nicht.

Ein grosser, stämmiger Mann nähert sich meinem Käfig und öffnet ihn. Es ist Herr Klein, der Leiter des Gefängnisses. Fast gleichzeitig mit dem Händedruck verlangt er nach meinem Ausweis, dann lädt er mich in sein Büro. Mir kommt vor, als hätte Herr Klein auf dem kurzen Weg ins Büro bereits fünf Türen per Batch geöffnet und zwölfmal einen Code eingegeben. Im Büro angekommen, erklärt mir Herr Klein die Regeln für das Treffen mit Herrn M.


«Kein Computer, keine Kamera, kein Handy, Stift und Papier ist ok.»

«Fotos muss ich aber machen.»

«Gut, aber nur in meinem Beisein, ich bringe Ihnen die Kamera später.»

Schon ein Unterschied zu draussen. Dort ist ja eher «Easy, mal luege».



Während des Begrüssungskaffees überlege ich mir Gründe, weshalb jemand Gefängnisdirektor werden will. Was Besseres als «ist ein Job» fällt mir nicht ein. Aber dafür ist Herr Klein viel zu engagiert, zu wach, bei dem was er tut.

«Weil ich Menschen mag», ist Herrn Kleins einfache Antwort. «Ich mag nicht alle Menschen, aber auch mit denen zu arbeiten ist interessant. Sie sind Teil der Gesellschaft und ich will ihnen hier helfen, sich wieder in die Gesellschaft integrieren zu lernen. Die Resozialisierung ist ganz einfach Teil unseres Auftrages. Der zweite Teil ist die Sicherung der Gesellschaft. Die Sicherung erreichen wir durchs Wegsperren. Sind sie drin, bereiten wir die Häftlinge auf den Wiedereinstieg in die Gesellschaft vor. Das heisst, wir versuchen die Gesellschaft da draussen innerhalb unseres Gefängnisses nachzubilden. Die Häftlinge haben einen festen Tagesablauf, gehen einer Arbeit nach und können soziale Kontakte mit anderen Häftlingen pflegen. Würden wir sie nur wegsperren, würden wir Menschen ohne jegliche Sozialkompetenz, aber mit viel Wut entlassen. Es kann nicht unser Ziel sein, solche Menschen auf die Gesellschaft loszulassen.»

Ab und zu bekommen wir Besuch von einem Mitarbeitenden, der sich bei Herrn Klein über dies und das erkundigt. Der Informationsaustausch hält sich kurz und knapp, ein wenig, als wollten sie unter dem Radar sprechen. Im Bewusstsein, dass genau hier, in dieser dünnen Schicht der Kontrolle, alles gut ist. Die Konzentration und Ruhe, die dafür notwendig ist, den Betrieb in dieser Zone zu halten, ist in allen Gängen, Blicken und Büros spürbar. Als hielte man die Luft an für die Zeit, in der man von der Gesellschaft da draussen abtaucht. Die Mitarbeitenden und Herr Klein können nach der Schicht wieder in die Gesellschaft auftauchen und Luft holen. Nicht so die Gefangenen. Sie sind bis zu zwei Jahren hier im Gefängnis Affoltern am Albis, das mitten im Wohnquartier liegt und so die Vollzugsphilosophie der Wiedereingliederung manifestiert.

Einer dieser Insassen ist Herr M., von dem ich nichts weiss. Herr Klein führt mich in einen kleinen Raum, in dem ich Herrn M. treffen soll. Mir wird mein Platz am Tisch zugewiesen und Herr Klein verlässt den Raum, in dem ich nun alleine auf M. warte. Eng hier. Kühl. Sogar das Neonlicht scheint noch ungemütlicher als sonst. Tisch, Stuhl, Notizblock, Kugelschreiber und eine Uhr an der Wand. Ich überlege mir, wer Herr M. wohl ist, was er angestellt hat und wie seine Stimmung ist.

Ich frage mich, warum ich mir nicht alle Menschentypen und alle Möglichkeiten zu Hergang und Umfeld von Herrn M. vorstelle, sondern mir gewisse Stereotype herauspicke. Widerlich. Ich rede mich damit heraus, dass ich nicht genug Zeit dafür hatte, denn jetzt öffnet sich die zweite Türe auf der anderen Seite des kleinen Raumes und ein Aufseher führt M. hinein.

Und M. füllt den Raum mit Schwere. Eine Schwere, die mir das aufgesetzte Empfangslächeln aus dem Gesicht drückt. Ein Mensch wie eine Legierung aus Traurigkeit, Müdigkeit, Schuld und Reue.

Wir sind jetzt alleine im kleinen Raum, sitzen vis-à-vis am kleinen Tisch. Vor uns die grossen philosophischen Fragen zum Gefangensein, der Zeit, Schuld, Reue, Sühne, Gesellschaft und Gerechtigkeit. All das hat in einem noch so kleinen Zimmer Platz. Und all das ist für den jungen, starken, schweren Herr M. ganz einfach zu beantworten. «Ich habe einen Fehler gemacht und sehe ein, dass ich einen Fehler gemacht habe. Weil ich diesen Fehler gemacht habe, bin ich hier.»

Und weil Herr M. schon genug Mauern um sich hat, möchte ich nicht auch noch eine Mauer sein, in dem ich ihn beschreibe und habe Herr M. darum angeboten, seine Tage hier und einige Gedanken dazu selbst zu formulieren.

Mit Tag fangt so a, dass ich am 7:30 ufstahne und denn iss ich Zmorge. Am 8 gömmer id Gfängniswerchstatt go schaffe und mached Sofas und Sessel us Euro Pallet. Am 11:15 chunt s’Ässe und denn muesmer uf sinere Zelle si. Nachem Ässe gang ich oft in Chraftrum und go dusche. Nachane gang ich mini Zälle go putze. Vom 12 bis am halb 2 chammer uf de Hof use go spaziere, oder sich drin mit andere Insasse träffe und unterhalte. Vom 2 bis am 4 gangi wieder id Wärchstatt go schaffe. Eimal ide Wuche, vo 16:10 bis 16:30 chamer sini Wösch wächsle. Vo 4 bis 6 isch Freizit. Znacht gits am 16:40, det mues jede uf sinere Zälle si. Ide frei verfüegbare Zit chamer telefoniere, wemmer e Telefoncharte kauft hät. Wichtig isch, dasmer alli Zite ihaltet. Am Wuchenend sind Zälle nur vo 8 bis am 11 offe. De Rescht vom Tag und de Nacht verbringt mer i sinere Zälle. Vorem Gfängnis bin ich einehalb Jahr in U-Haft gsi. Det ischmer 23 Stund am Tag ide Zälle gsi und hät nur 1 Stund am Tag chöne go spaziere.

Ich denke, ich bin i die Situation cho, will ich i gwüsse Moment vo mim Läbe die falschi Abzwigig gno han. Im erschte Fall isches es so gsi, dass ich eifach uf 180 obe gsi bin und es nöd gschafft han, mich rechtzitig z’beru- hige oder drüber nahdänkt han, was das für Uswürkige chan ha und was mini Handlige arichtet.

Im zweite Fall isches eher so gsi, dasses e Churzschlusshandlig gsi isch. Alles isch so schnell gange und mir isch erscht nachane bewusst worde, das ich en Fehler gmacht han.


Im Gespräch mit Herrn M. merkt man, dass die Worte der Einsicht nicht auswendig gelernt, sondern durch Selbstreflexion erarbeitet wurden. Alles, was er jetzt tun kann, ist die Zeit hier drinnen und ausserhalb der Gesellschaft so gut es geht zu überstehen.

In seinem fest strukturierten Tagesablauf muss er immer wieder an seine Familie denken. Es schmerzt ihn, dass sie seinetwegen leiden müssen. Jetzt kommen sie ihn wöchentlich besuchen. Während der U-Haft hat er sie ein halbes Jahr lang nicht gesehen. Was nach dem Gefängnis kommt, weiss Herr M. noch nicht. Die Jobsuche macht ihm Angst. Eines will er aber sicher anders machen. Etwas, dass auch wir, die draussen sind, uns jeden Tag bewusst machen können: Die einfachen Dinge im Leben schätzen. Die sind es nämlich, so die Erfahrung von Herrn M., die das Paradies ausmachen. Wie mit Freunden und der Familie zusammen sein, sich Geschichten erzählen, zu lachen und den Schlüssel zur eigenen Wohnung zu besitzen.