Reportage medicoJOURNAL – Ausgabe Bewegung

Punktwelt


Was im Stillstand bewegt – Reportage aus der Sukkulenten-Sammlung Zürich



«Können Sie mir das nochmals erklären, ich habe es nicht ganz verstanden», eröffnet die anwesende Gärtnerin der Sukkulenten- Sammlung Zürich unser zweites Gespräch.

Das erste Gespräch hielten wir im Eingangsbereich, jetzt sitze ich hinten im Grosspflanzenhaus. Im Eingangsbereich habe ich ihr meine Idee erläutert, einen Tag bei den Sukkulenten zu sitzen, um mich meiner und der Bewegungen der Stadt zu entziehen. Um zu erfahren, wie es ist, sich (genauso wie die Sukkulenten seit Jahrzenten) nicht zu bewegen. Indem ich auf das verzichte, was ich unbedacht immer tue und es dann, nach stundenlangem Unterlassen, wieder tue, hoffe ich, einen anderen Blick auf die Bewegung zu bekommen. Das habe ich der Gärtnerin erklärt, morgens um halb zehn in der Sukkulenten-Sammlung. Ich verstehe, dass sie nachfragt, es hat sich auch für mich komisch angehört. Aber die Redaktion findet die Idee tatsächlich gut, also sitze ich sie aus.

Am Kopf des Rundwegs im Grosspflanzenhaus angekommen, setze ich mich, zeige auf eine der grössten Sukkulenten und frage nach dem Alter. «Oh, so ganz genau weiss ich das nicht, aber 100 Jahre alt wird die schon sein.» Eine Zahl, die meine Eintages-Aufgabe lächerlich wirken lässt, bevor ich überhaupt Stellung bezogen habe. 100 Jahre ohne Bewegung an ein und demselben Ort, sporadische Verpflanzungen nicht ausgeschlossen. 100 Jahre und hier ist sie, gross und stark. Nur noch 5 oder 30 Jahre, dann stösst sie oben am Glashaus an und durchbricht, ohne sich zu bewegen, ihre Welt. Dieser beständige Geist. 100 Jahre hat er nichts getan, ausser von dem zu leben, was er mit Wurzeln und Körper greifen kann, und entdeckt eine neue Welt.

Ich sitze nun seit einer Stunde hier, während die ersten Besucher eintreffen. Aus Höflichkeit nehme ich ein Heft und einen Stif zur Hand. So lässt sich irgendwie zusammenreimen, warum da ein Typ sitzt, denke ich. Der hat einen Grund, so bewegungslos dazusitzen, der macht nicht einfach nichts. Die meisten Besucher sind Touristen; ein, zwei Pärchen kommen auch. Dann noch zwei 20plus-jährige Influencerinnen oder solche, die es werden wollen. Eine voll auf #styleinspo mit fett #makeuplooks und #heels, während ihre Freundin sie fotografiert. Es ist erstaunlich, wie natürlich die, die das Model mimt, die künstlichen Bewegungen von Pose zu Pose drauf hat.

Ich sitze jetzt drei Stunden und sehe immer denselben Bildausschnitt. Unruhe kommt auf. Sonnenbrille auf, Sonnenbrille ab, ein Schluck Wasser. Um mich herum bewegen sich Besucher, Gärtner, zur Mittagspause schaut der Typ von der Wache AG vorbei. Ein Käfer, eine erschöpfte Biene und ein Schmetterling erkunden die Welt in meinem Blickfeld. Rund ums Glashaus bewegt sich Bekanntes: Verkehr, Jogger, Wolken, Vögel, vom Wind bewegte Äste und Blätter, Flugzeuge und die Sonne. Sie alle bewegen sich. Ich fast nicht und die Sukkulenten gar nicht. Sie wachsen nur vom Nullpunkt vertikal nach oben und nach unten. Wir Menschen wachsen nur nach oben und bewegen uns dann wie irr von da nach dort.

Müssen wir uns so irr bewegen? Vor einem Leben noch war das Dorf die Welt, heute ist die Welt ein Dorf. Wo holen wir uns diesen Stachel, auf den Berg da zu müssen und nach dem Berg auf den nächsten Berg und nach all den Bergen von Küste zu Küste zu jagen. Wir sagen, es ist in uns, die Lust auf Abenteuer. Der Mensch muss entdecken, wandern, hinter den Horizont blicken. Entdecker werden bewundert, bewegen sie sich doch in unbekanntes Gebiet, um uns davon zu berichten. Sie bewegen sich für uns, im Namen der Menschheit. Jedenfalls der weissen Menschheit. Die mussten immer auf die Berge, über die Meere. Nomaden, Indogene bewegten sich, um mit der Rentierherde mitzuziehen, auf die Jahreszeiten einzugehen. Aber grundsätzlich waren sie mit ihrer Region zufrieden. Sie bewegten sich im Rhythmus der Natur. Ich glaube, so findet man Frieden. Wenn man den Impuls überwindet, dahin zu müssen. So überwindet man sich selbst. Nur ist das leider der grösste aller Berge.



Je länger ich hier sitze, desto flüchtiger nehme ich die Bewegungen der anderen Besucher wahr. Ihr Vorbeiziehen nimmt immer weniger von meiner Aufmerksamkeit in Anspruch, bis sie nur noch einem Wimpernschlag gleichen, austauschbar, unbemerkt. Sie beginnen fahrig auf mich zu wirken. Ich frage mich, was sie in dieser kurzen Zeit ihrer Anwesenheit zu sehen glauben. Dabei gibt es so viel zu sehen hier. Jede einzelne Pflanze ist eine Skulptur, ein Standbild eines hundertjährigen Films, eine in super-super-super-slowmotion stattfindende Explosion.

Die zwei Welten passen nicht zusammen. Die kreisenden Besucher und die stoischen Sukkulenten. Passend wir das Bild, richtet man den Blick in den Himmel. Dort, wo die oberen Enden der grossen Sukkulenten ins Blau greifen und von vorbeiziehenden Wolken besucht werden. Das ist das Bild, das ist der Rhythmus, der passt. Und im Kopf wird es leise und wenn es ganz leise wird, beginnen die bewegenden Gefühle anzuklopfen, denen man auf Reisen entflieht und für die es am Check-in viel zu laut und zu bewegt ist. Man beginnt das Blut im eigenen Körper zu hören, und wie das Herz den Saft, der uns am Leben hält, durch unseren Körper pumpt. Hier, wo sich die Säfte konzentrieren, wie das Wasser in einer Sukkulente, die besonders viel davon speichern kann, und darum den Namen Sukkulente trägt, vom Wort «succus» abstammend, dem lateinischen Begriff für Saft.

Irgendwann verfängt sich in der meditativen Ruhe ein Gedanke in diesem Rhythmus und man glaubt, hier, in einem drin, inmitten eines von Sukkulenten bewohnten Trockengebiets, hätten Pink Floyd ihre Lieder aus dem Äther gefischt.



Freunde kommen mich besuchen, die von meiner Aktion wissen, unter ihnen der Fotograf. Ich stehe das erste Mal seit circa vier Stunden, dreissig Minuten auf und bewege mich. Der Perspektivenwechsel verschiebt die Sukkulenten, die die letzten Stunden an Ort gestanden haben. Das Bewegungsfasten zeigt Wirkung. Ich bin kurz überfordert, freue mich dann aber, das Bekannte aus neuem Blickwinkel zu sehen. Jeder Meter zeichnet ein neues Bild. Ich bin dankbar, kann ich mich bewegen.


Bilder: Stephan Huwyler