Reportage medicoJOURNAL – Ausgabe Wege

Radikal Rational


Der Weg von Roli und seiner Freundin Anika vom Überfluss in die Einfachheit

Das letzte Mal gesehen habe ich Roli am 27. Dezember 2019 in Frauenfeld. Wir haben in einer jener Pizzerien gesessen, die Mario oder Angelo heissen, früher eine Beiz waren und sich nie ganz vom Cordon-Bleu trennen konnten. Man würde sonst den Stammtisch verlieren, und mit ihm die eigenen Stammzellen. Das Licht in der Pizzeria war furchtbar hell und liess den geschmolzenen Käse glasig wirken, Poren wurden gross wie Augen. Die Weihnachtsdeko verzweifelte auf dem Fenstersims und allen Kinderwünschen zum Trotz schneite es auch heute nicht. Vielleicht ist es das Wissen um den Wendepunkt in Rolis Leben, der die Wahrnehmung intensiviert, seine radikalen Entscheidungen, die den Ort und das eigene Leben so hell ausleuchten. Roli hat gepackt, seine Wohnung gekündigt und für sich und seine Freundin ein Ticket nach Südamerika gekauft. One way.

Roli hat in den fünf Jahren, in denen ich ihn kenne, sein Leben radikal geändert. Kennen gelernt habe ich ihn als Entwickler bei Tocco, einem Softwareunternehmen in Zürich. Er ging einen Weg, von dem viele träumen. Gut ausgebildet, guter Lohn, gute Karrierechancen, gesund und trinkfest. Es war eine tolle Zeit. Roli war Teil eines Freundeskreises bei Tocco, die sich im Unternehmen oder der Ausbildung kennenlernten und sich sofort verstanden. Man traf sich oft auch nach der Arbeit, genoss das Leben, die Langstrasse und die Aussicht auf die Welt, die einem zu Füssen lag. Der Weg glich einer Autobahn, frei von Verkehr und voller Versprechen, der Horizont war der Anfang vom Himmel auf Erden.


«Damals», erinnert sich Roli, «war ich kaum erwachsen. Wie die meisten, die plötzlich Geld verdienen und jährlich Gehaltserhöhungen bekommen, passte ich meinen Lifestyle stetig an das höhere Einkommen an und genoss mein Leben. 300 Franken oder mehr an einem Abend in Zürich auszugeben, war nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Insgesamt empfand ich es aber einfach als das normale Leben, das man in der Schweiz halt lebt. Man arbeitet den ganzen Tag, verdient sein Geld und kauft sich irgendwann ein Haus, spendet vielleicht ein paar tausend Franken und bezahlt seine Steuern. Dass gute Beziehungen, Gesundheit und die Lebenszeit auf der Strecke bleiben, ist halt normal.»

Doch auf der Autobahn tauchten die ersten Schlaglöcher auf. Erlebnisse, diffuse Wahrnehmungen, verschmelzten zu einem Spiegel, dessen Reflexion sich Roli immer weniger entziehen konnte. Über die Jahre wurden die gemeinsamen Drinks weniger und die Gesprächsinhalte nüchterner. Mitarbeitende und Freunde verliessen das Unternehmen, machen woanders Karriere, reisen. Kontakte wurden virtueller, die Autobahn ins vermeintliche Paradies verkam zum Förderband. War es das? Noch Kinder und einfach immer mehr Geld machen?

Roli beginnt, Bücher zu lesen. Bücher wie «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» von Bronnie Ware. Die Antworten nährten seine Ahnungen. «Ich wünschte ich hätte noch mehr Geld gemacht und noch mehr gearbeitet, meine Familie noch weniger gesehen» war nicht die Antwort, die sich in den Bü-chern fand. War Roli also auf dem Holzweg?

Mittlerweile ist Anika, Rolis Freundin, von Berlin zu ihm in die Schweiz gezogen. Sie diskutieren die Erfahrungen, die Werte, mögliche Wege.

Fürs Erste nimmt Roli den Fuss vom Gas, geht aber den eingeschlagenen Weg weiter. Noch immer arbeitet er Vollzeit, noch immer fliegt er als Pilot einmotorige Sportflugzeuge über die Alpen. Zum Beispiel zum Pizzaessen nach Locarno.

2014 dann ein Erlebnis, das auf seiner Autobahn zum ersten Mal auf eine Ausfahrt deutet – Ferien auf den Malediven. «Hier habe ich zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass man richtig viel Geld für nix rausballern kann, wenn man einfach das Gleiche macht, wie es die vormachen, die ein anscheinend ‘gutes Leben leben’ führen. Natürlich ist es sehr schön da, aber dass ein Haufen ‘Sklaven’ den Dreck hinter dir wegräumt und man sich nur den ganzen Tag bedienen lässt, hat mich fast wahnsinnig gemacht. Ich konnte es kaum geniessen, auch wenn es vielleicht auch nicht überall so ist auf den Malediven», erinnert sich Roli. «Ganz anders die Ferien in Archer Point, Australien. Für uns bis heute wahrscheinlich der schönste Ort, an dem wir jemals waren. Das Land gehört den Aboriginals. Sie erlauben kostenloses Campen an diesem traumhaften Ort, fernab von Massentourismus. Es hat keine Toiletten und auch sonst keine sanitären Anlagen, es hat überhaupt keine Gebäude – einfach nur pure, schnörkellose Schönheit und natürlich auch kein Mobile Netz.»

Zurück in der Schweiz beginnen diese Erlebnisse in Roli zu treiben. Wie Wurzelwerk durchstossen sie zementierte Werte, der unebene Boden lässt Roli taumeln, den eingeschlagenen Weg hinterfragen. Roli und Anika reflektieren, was sie wirklich wollen, denn «Das Leben ist kurz», merken auch sie schon in ihren jungen Jahren. «Die letzten zehn Jahre vergingen rasend schnell. Wir hatten nicht das Gefühl, dass wir sie verschwendet hätten. Ich zum Beispiel habe in der Zeit mein Studium gemacht und auch sonst viel gelernt. Wir hatten aber das Gefühl, dass wir Gefahr laufen, die kommenden zehn Jahre zu verschwenden und dass ein grundlegend anderer Kurs als der ‘Standard-Kurs’ nötig sei für die Zukunft.»

«Grundsätzlich geht es uns darum, ein möglichst glückliches Leben zu leben. Das ‘Standard-Leben’ in der Schweiz ist okay, aber es konnte nicht alles sein für uns. Auch wenn uns unsere Arbeit Spass machte, beanspruchte sie zu viel Zeit. Wir wollten mehr Zeit für unsere Hobbys und uns selbst, für uns als Paar. Wenn Anika Spätschicht hatte, sahen wir uns überhaupt nicht, da ich schon im Bett war, wenn sie nach Hause kam und sie noch schlief, wenn ich morgens aus dem Haus ging. Unsere Gesundheit und andere Dinge, die uns wichtig sind, wie zum Beispiel ein paar Monate Volunteering im Jahr, gingen unter. Ausserdem hatten wir nach unserem halben Jahr in Australien Blut geleckt und wollten mehr reisen. Dies aber möglichst ohne die Umwelt allzu stark zu verpesten. Für ein paar Wochen auf einen anderen Kontinent zu fliegen, kam deshalb nicht infrage. Wir müssen langsamer unterwegs sein. Das geht bei unseren finanziellen Mitteln nur, wenn wir unsere Wohnung in der Schweiz aufgeben.»

An Rolis neuem Weg wurde schon lange gebaut, aber um diesen zu finden musste er erst zur Kreuzung gelangen, oder anders gesehen, den Weg eines anderen Menschen kreuzen. Dieser Mensch war Sandro. Sandro ist GL-Mitglied des Treuhand Büros Trewitax. In seiner Freizeit leitete er als Präsident das Hilfswerk «Pro Pomasqui». Der Verein «Pro Pomasqui» unterstützt seit 20 Jahren Sozial- und Umweltprojekte in Pomasqui, Ecuador. Dazu gehören Bau und Unterhalt von zwei Kindergärten, Patenschaften, Umweltbildungen sowie Trinkwasser und Recyclingprojekte. Auf der Suche nach einem IT-Experten geriet Sandro an Roli. Schnell fanden die beiden zueinander, diskutierten über die Welt und Werte. Roli sah, dass die lebensentscheidende Kreuzung erreicht war und er und Anika ihren neuen Weg gefunden haben. Dieser Weg führt sie nach Pomasqui, Ecuador.

«Heute denke ich, dass es wichtig ist, dass jeder seinen Beitrag leistet. Eigentlich macht das ja auch fast jeder. Der ‘Durchschnittsschweizer’ wahrscheinlich hauptsächlich durch seine Steuerzahlungen und Beiträge an die Sozialversicherungen. Ich werde in Zukunft (aufgrund deutlich geringerem Einkommen) deutlich weniger Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Manch einem mag dies unmoralisch erscheinen, weil wir so von der Infrastruktur und den Bildungssystemen in Europa profitieren, ohne selber zur Finanzierung beizutragen. Das stimmt gewissermassen.


Die unentgeltliche Arbeit als Volontäre wie hier in Pomasqui ist deshalb auch ein Weg, dies zu kompensieren. Es ist wichtig, seinen Beitrag zu leisten – aber ich betrachte es ‘globaler’ als manch empörter Mitbürger. Klar wäre zum Beispiel die Schweiz nicht so weit, wie sie heute ist, wenn das alle machen würden wie wir – und wir sind dankbar, dass wir von der Infrastruktur und Bildungssystemen in Deutschland und der Schweiz profitieren durften und dürfen.

Unter dem Strich sollte unsere Arbeit als Volontäre in den ärmeren Ländern dieser Welt aber auch dazu beitragen, dass die reichsten Länder und die ärmeren etwas näher zusammenrücken – was aus meiner Sicht nicht unbedingt schlecht wäre. Ich habe meine Rolle vom ‘Default-Beitrager’ als Steuer- und Sozialversicherungszahler einfach durch eine aktive Entscheidung verschoben in einen anderen Bereich. Sie ist jetzt globaler und findet nun mehr durch unentgeltliche Arbeit statt als durch finanzielle Beiträge. Für Tocco arbeite ich übrigens noch immer, wenn auch nur Teilzeit und am anderen Ende der Welt.»


Im Gespräch mit Roli merkt man, er hat einen Meilenstein auf seinem Lebensweg gesetzt. Beide, Roli und Anika, sind sehr nahe an dem, was für sie ein glückliches Leben bedeutet. Und von allem weit weg, was vermeintlich glücklich, aber latent unglücklich macht.


«Die typische ‘Lifestyle-Inflation’ mit steigendem Gehalt führt meist nicht zu einem glücklicheren, sondern nur zu einem teureren Leben. Wegen hedonistischer Adaption macht das neue Auto und die grosse Wohnung nur für relativ kurze Zeit etwas glücklicher, wird aber bald Normalität. Gleiches gilt wohl auch für tägliche Restaurantbesuche. Macht man es jeden Tag, ist es nichts Spezielles mehr, einfach nur teuer und oft ungesünder als das selber zubereitete Essen zu Hause. Geht man dagegen nur einmal monatlich auswärts essen, bleibt es ein spezielles Erlebnis.»


Roli und Anika bleiben noch ein paar Monate in Pomasqui und helfen den Menschen vor Ort, ihren Lebensstandard zu verbessern. Nach ein paar Monaten wollen sie weiterreisen, die Welt sehen und helfen. Ein radikaler Weg, der durch das rationale Abarbeiten der gestellten Lebensfragen gefunden wurde. Was ist mir wichtig? Wie will ich leben? Welche Werte will ich nähren? Roli und Anika haben ihren Weg gefunden. Weil sie Erfahrungen reflektiert und die Lehren daraus umgesetzt haben. Dafür muss man Entscheidungen treffen. Schwierig, dieser Tage, wo wir doch alles haben können.

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Übrigens haben Roli und Anika wegen Corona eine Hilfsaktion für Pro Pomasqui gestartet. Ziel ist es, rund 170 besonders arme Familien während der Krise mit Lebensmittelpaketen zu unterstützen. Wer diese Aktion unterstützen will, findet alle Informationen dazu auf Rolis und Anikas Website www.ranioli.ch/ecuador.

Die Fotos für diese Ausgabe wurden von Roli oder Freunden in Pomasqui gemacht. Sie spenden das Fotografen-Honorar für das Hilfswerk Pro Pomasqui.

Alle Informationen zum Hilfswerk finden Sie unter www.propomasqui.org.