medicoJOURNAL – Ausgabe Rausch

When Nothing Else Matters


Hyperfokus – Der Rausch der ADHS Patienten





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Man kann vor sich hinleben und alles im Griff haben oder man kann es nicht. Für beide Fälle gilt, es gibt nur 100%. Immer.

Man kann dopen, bescheissen, sich berauschen oder sonst irgendwie kurz gucken, was nach der 100% Schallmauer ist, aber irgendwann holt es dich ein.

Hinter den 100% liegt der Rausch, davor die Realität. Für ADHS Patienten heisst Realität oft leiden. Den Rausch allerdings erleben ADHS Patienten umso intensiver. Dieser Rausch heisst Hyperfokus.




Jeder von uns macht sein Ding. Banker oder Bäcker, Detailfachhandelsangestellte oder DJ. Die Glücklichen unter uns arbeiten, was sie wollen. Die anderen finden ihr Glück vielleicht in der Freizeit. Was man auch macht oder wer man ist, es gibt Dinge unter all den Dingen die wir tun müssen, die tun wir gerne und dann sind da die unsägliche Dinge, die wir ungerne tun, die aber getan werden müssen.

Das Schreckliche an diesen Dingen, die wir ungerne tun ist, sie werden grösser, je länger wir sie liegen lassen. Das Gegenmittel heisst Disziplin. Kann Disziplin für pathologisch unauffällige Menschen schon anstrengend sein, ist sie für ADHS Patienten der tägliche Goliath, den sie immer und immer wieder bezwingen müssen. Und das ist anstrengend, warten doch im Alltag viele Goliaths.

Der Papierkram-Goliath, der Sozialkompetenz-Goliath, der audiovisuelle Reiz- Goliath. Das Gegenmittel, die Disziplin, greift bei ADHS Patienten nicht. Die Steinschleuder, die die Medizin den ADHS Patienten im Kampf gegen Goliath zur Verfügung stellt heisst Ritalin. Die körpereigene Waffe heisst Hyperfokus.











Was ist Hyperfokus

Als Hyperfokus bezeichnet Russell Barkley, ADHS Spezialist an der Universität von South Carolina, einen meist nicht willkürlich steuerbaren, nicht selektiven, Flow- ähnlichen und stimulusabhängigen Zustand erhöhter Konzentration, der bei ADHS- Betroffenen beobachtet werden kann.

Der Betroffene, der im Alltag schnell abgelenkt ist und das Interesse an einer für ihn nicht interessanten Tätigkeit verliert schafft es also, während der Hyperfokussierung, die Welt um sich herum zu vergessen und voll in der für ihn interessanten Tätigkeit aufzugehen. Zum Beispiel ein Buch lesen, Computerspiele spielen, zeichnen, organisieren. Einen Zustand, den wir bis zu einem gewissen Masse wohl alle kennen, im Hyperfokus aber verstärkt auftritt.

Vielleicht könnte man dem Hyperfokus, um ihn besser zu verstehen, eine passive Variante zur Seite stellen – den Tagtraum. Auch hier erreichen wir jenen Zustand, der uns von der Welt abschottet, uns aber merkwürdigerweise das Gefühl gibt, abklenkungsfrei im Hier und Jetzt zu sein. Als Ursache für den Hyperfokus werden spontane, stimulusgebundene Hirnstoffwechselvorgänge genannt, welche die Exozytose relevanter Neurotransmitter und damit eine erhöhte Aktivierung zur Folge haben. Eine Erklärung, die aktuell als Hypothese gehandelt wird.

Kritiker wie Thom Hartmann sehen als Auslöser für den Hyperfokus eine genetische Veranlagung, die auf den Jagdtrieb des steinzeitlichen Jägers zurückzuführen sei.




Normal ist es nicht, aber muss es das?

Was mir vom Gespräch mit Daniel bleibt, ist die Begeisterung, mit der er vom Hyperfokus erzählt. Zu schaffen macht ihm natürlich der Normalzustand. Aber warum? Weil er die Dinge nicht so erledigen kann, wie es von ihm erwartet wird, durch allgemein etablierte Strukturen vorgegeben ist. Ist nun das Problem, dass er das aufgrund seiner diagnostizierten ADHS Symptome nicht bringt, oder sein Umfeld etwas anderes erwartet?

Daniel ist ein umtriebiger, herzlicher Typ, wie ihn sich jede Gesellschaft wünschen kann. Die Medizin sagt, er sei nicht in einem Masse aufmerksam, wie das erwartet werden kann. Aber sind nich wir es, denen diese Aufmerksamkeit fehlt? Sollten nicht wir, die darum wissen und aus einem medizinischen Standpunkt die Fähigkeit der meist normalen Aufmerksamkeitskompetenz besitzen, genau mit dieser Aufmerksamkeit an Individuen herantreten, die oft damit kämpfen und sie unterstützen?
Enttäuschungen besieren ja oft nicht auf dem eintretenden Ereignis, sonder aufgrund der Erwartungshaltung der in Erwartung befindlichen Person. Handeln Mitmenschen nicht so, wie ich es erwarte, bin ich enttäuscht. Veilleicht ist das doch eher mein Aufmerksamkeitsdefizit, nicht das meines Vis-à-vis. Hätte ich besser zugehört, mich nach der Befindlichkeit erkundigt und mehr Empathie statt eines egoistischen Tunnelblicks gezeigt, hätte ich dem Betroffenen weniger das Gefühl gegeben, nicht zu genügen.

Meine Normaloscheuklappen haben nichts anderes zugelassen. Wir können den Davids da draussen, die gegen ihre täglichen Goliaths kämpfen weitere Steinschleudern schenken. Indem wir nicht sie uns anpassen, sondern unsere Erwartungshaltung anpassen. Jeder Mensch ist anders.

Nicht besser, nicht schlechter, einfach anders. Wenn wir, basierend auf dem Triggerkonzept von Horlitz und Schütz davon ausgehen, dass Motivation, Selbstwert und Interessen zum Hyperfokus führen und somit Höchstleistungen möglich machen, sollten wir nicht da bohren, wo es weh tut, sondern Umstände schaffen, die die Betroffenen ihre Fähigkeiten ausleben lässt. Wer weiss, was im Rausch des Hyperfokus alles möglich ist, das der Gesellschaft zugute kommen kann.

*Name geändert, dem Redaktor bekannt.